Denk dich über den Tellerrand!
Wenn zu viel Zappelphilipp und Trotzkopf in deinem Kind stecken... .

Wir gehen zum Arzt, wenn uns das Herz schmerzt. Wir gehen zum Arzt, um unsere Blutwerte kontrollieren zu lassen.Wir suchen einen Arzt auf, sobald wir feststellen, das unsere Augen nicht mehr ihre volle Sehkraft leisten. Wir gehen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen, um jeglicher Erkrankung zu trotzen. Wir wollen sie behandelt wissen, akut oder präventiv.
Ja, und wie ist das eigentlich, wenn die Informationsübertragung im Gehirn gestört ist?
Wenn zu viel Zappelphilipp und Trotzkopf in einem Kind stecken? Wenn das Kind jeden Tag heftige Konflikte in der Schule erlebt und sich die sozialen Kontakte auf die eigene Familie beschränken? Wenn durch eine mangelnde Konzentration das halbe Jahr der ersten Klasse am Kind vorbei gezogen sind? Wenn sich das Kind bemüht, aber auf nichts konzentrieren und selten aufmerksam sein kann?
Wenn die Regulation der Stresssymptome zu häufig aktiviert oder nicht wieder korrekt deaktiviert wird?
Dann kann mittels einer Differentialdiagnostik (ebenso einer Ausschlussdiagnostik) unter Berücksichtigung der immer wieder kehrenden Symptome die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ausfindig gemacht werden.
Dann dürfen wir diesen Kindern doch auch helfen? Denn wenn unser Augenarzt eine Sehhilfe verschreibt oder unser Hausarzt dringend Physiotherapie verordnet, dann können wir natürlich selbst über uns und die verschrieben Anwendung oder das Rezept entscheiden. Wir sind ja erwachsen und können über uns selbst bestimmen und tragen Verantwortung.
In den meisten Fällen jedenfalls, berücksichtigen wir des Arztes Rat und widersetzen uns selten seiner Kenntnis, seines Erfahrungsreichtums und seiner Diagnose. Manchmal verschreiben uns Ärzte auch ein Medikament, um die Symptome zu lindern, um die Schmerzen erträglicher zu machen, um weniger Einschränkungen im Alltag zu haben, um gesünder zu werden oder gesund zu bleiben.
Ja und dann?
Merken wir, dass unser Kind Hilfe braucht, dann ist es doch ein völlig normaler Gang: nämlich der zum Kinderarzt. Sobald sich unser Kind unwohl fühlt, krank ist, dann helfen wir unserem Kind. Wir haben die Fürsorge Pflicht. Wir tragen für unsere Kinder die Verantwortung. Wir vereinbaren also einen Termin beim Kinderarzt und haben ein gutes Gefühl, sobald wir die Praxis wieder verlassen und wissen, wir konnten unserem Kind helfen. Stigmatisieren wir Kinder dann auch, wenn wir mit ihnen zum Kinderarzt gehen und sagen:" Es stimmt etwas nicht. Wir brauchen Ihren Rat. Wir müssen uns jemandem anvertrauen. Wir können nicht mehr. Das Kind ist so zappelig. Es hat Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. "
Irgendwann saßen wir auch beim Kinderarzt. Wir waren ihm allerdings schon einen Schritt voraus. Der Termin bei einem Facharzt für Kinder - und Jugendpsychiatrie stand schon in unserem Terminkalender.
Unser Kinderarzt sagte: "Klasse, dann habe ich mir ja einen großen Teil
der Arbeit gespart und sie haben super auf sich und ihr Kind geschaut! Herzlichen Glückwunsch!" Und das meinte er aus vollem Herzen. Wir waren erleichtert. Endlich war es offen ausgesprochen und die ersten Weichen waren gelegt. In welche Richtung es gehen würde, dass wussten wir nicht. Für uns war es zum damaligen Zeitpunkt auch nicht normal einfach so zum Arzt zu gehen.
Wie steht es um die betroffenen Kinder? Kinder wissen oft intuitiv, dass es das Bauchtier gibt. Sie sind eben besondere Kinder. Natürlich sind alle Kinder, besonders und wunderbar. Jedes Kind kommt besonders zur Welt. Als einzigartiges kleines Bündel. Helmut Bonney, Arzt für Kinderheilkunde, für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Systemischer Familientherapeut, vertritt die Meinung, dass sich jedes Kind im Rahmen seiner genetischen Anlagen und dem sozialen Raum, in den es hineingeboren und versorgt wird, entfaltet. Die Startbedingungen sind demnach erst mal die selben, für alle neuen Erdenbürger. Es gibt noch eine interessante Sichtweise, nämlich die der amerikanischen Kinderärzte William und Martha Sears, dass es Kinder gibt, die ihren Eltern durch intensive und wache Blicke, durch ein ausgesprochen offenes und interessiertes Wesen mitteilen: "Ich bin kein Durchschnittskind."
Erinnere ich mich an die ersten Minuten nach der Geburt meines Bauchtier-Kindes kann ich sagen: Ja, es stimmt. Mr und Mrs Sears haben so Recht! Da war dieser Blick, dieses "Wache" in diesem kleinen Gesichtchen.
Kinder die in ihrer Wahrnehmung besonders sind, wissen selbst genau, dass sie anders sind. Sie wissen, dass sie keine Durchschnittskinder sind, andere Fähigkeiten, Stärken und ihre ganz eigenen Herausforderungen im Alltag haben. Mit sich selbst. Mit anderen. Mit ihrem Bauchtier.
Sie wissen es. Nur können sie es nicht benennen. Und dann beginnen oft die Schwierigkeiten... .

Deswegen wäre es doch sagenhaft, Kindern die Schwierigkeiten haben groß und stark zu werden, anders zu begegnen. Sie zu unterstützen. Sie zu stärken und ihnen zu helfen. Sie genauso lieb zu haben, wie Annika oder Tommy. Sie brauchen uns. Und dann kann es auch in Ordnung sein, sich Rat zu suchen. Zum Arzt zu gehen, wenn wir nicht mehr weiter wissen.
So, als bräuchten auch wir dringend eine neue Sehhilfe oder ein neues orthopädisches Schuhwerk. Denn dann können wir die Welt mit anderen Augen sehen und sicher unsere Wege gehn.
Schließlich reden wir einem Menschen, der nur noch ein Bein hat auch nicht ein, er habe eben noch zwei. Wir vertuschen diese Tatsache nicht. Wir schauen nicht hin. Wir trauen uns nicht hinzuschauen. Vielleicht tun wir dann doch so, als habe er zwei. Obwohl wir beide wissen, das es nicht so ist. Ist es nicht normal, dass Kinder auch mal wild, freimütig und unbändig sind? Nur das es eben eine Diagnose gibt. Von einem Arzt. Einer der dir bestätigt, was du längst gewusst hast: Ich brauch `ne Brille!
