Die Kraft der Wutenergie

Wut und Aggressionen von Kindern mit einem ADHS oder von gefühlsstarken Kindern sind faszinierend, gleichsam aber auch lähmend für Eltern. Wut und Aggressionen sind auch Motor für viele Dinge in uns.
Doch kann es mir als zeitweise ratloses Elternteil gelingen, den ewigen Konflikten und Diskussionen etwas Positives abzugewinnen, wenn wir die Streitereien als strapaziös und lähmend empfinden?
Vor nicht all zu langer Zeit, erhielt ich eine Nachricht einer betroffenen Mutter: "Wie schaffst du es immer das Positive zu sehen? Gibt es einen Zaubertrick? Hast du vielleicht einen Guru?"
Schön wär` s. Nein, natürlich nicht. Vielleicht ist es wie eine Art Mantra, das ich mir viele Male am Tag zuflüstere oder mehrmals in der Woche: Dein Kind provoziert dich nicht mit bloßer Absicht! Wenn er es doch tut, dann braucht er die Reibung. Die Begrenzung, weil er selbst noch nicht in der Lage dazu ist. Und vielleicht ist es das Bedürfnis nach Nähe, welches er sich sucht. Und es ist unsere Begegnung, denn Kinder mit AD(H)S können intensiven Körperkontakt nur schwer aushalten.
Wir lesen immer: Kinder brauchen Grenzen. Doch wie sehen diese Grenzen aus und wieso sind sie meistens mit unbändiger Wut verknüpft?
Kinder mit einer Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörung oder eines oppositionellenVerhaltens, suchen ständig Grenzen und Reibung. Sie brauchen sie, um eine Orientierung zu haben, um sich zu erden und um wachsen zu können. In einem meiner Blogbeiträge, habe ich schon einmal darüber geschrieben, dass Kinder ihre eigenen Grenzen nur wahrnehmen und spüren können, wenn sie zunächst lernen die Grenzen der Erwachsenen und schließlich die eigenen zu erfahren. Meistens geschieht das über einen Konflikt und einem unbefriedigten Bedürfnis heraus.
Zurück zu meinem vermeintlichen "Zaubertrick" und der Wutenergie. Eigentlich vergeht kein Tag, an dem wir nicht diskutieren und unsere Regeln wieder einmal über Bord schmeißen oder neue Regeln aufstellen und verhandeln müssen. Manchmal denke ich, ich agiere wie ein Soldat: Der Ton kurz und knapp, gefühlt klingt er barsch. Zu barsch, für ein hochsensibles Kind. Jedoch haben wir die Erfahrung gemacht, das emotionales und erklärendes "Gesäusel" weder das Kind, und schon gar nicht das Bauchtier im Menschenkind erreicht. Und wenn es gar nicht mehr geht, aus elterlicher Sicht, dann wird der Ton angezogen und es wird manchmal sehr laut. Das gefühlsstarke Kind reagiert und diskutiert, bis mir die Worte und klugen Gegenargumente fehlen. Die Eskalationsstufe ist dann nicht mehr weit entfernt.
Es wird nicht Klein bei gegeben, das Bauchtier hat das letzte Wort.
Die friedvolle Elternschaft wird in Momenten wie diesen stark erschüttert. Mag es an der eigenen Erziehung liegen, die man genossen hat, oder an der Auffassung, das "ein Kind nun mal nicht immer das letzte Wort zu haben braucht" , wo auch immer dies geschrieben steht. Es macht Eltern einfach wütend und hilflos.
Wortgewandte Kinderworte erreichen uns Eltern dann nur noch mit Mühe, denn auch bei uns läuft ja irgendein Film ab. Tunnelblick. Und dann? Meistens weint das Menschenkind schon, weil es einer Diskussion wie dieser rein kognitiv noch gar nicht gewachsen und die Überforderung des Kindes deutlich zu spüren ist. Dennoch bringt das Kind die Energie auf, seinen Willen, sein eigenes Bedürfnis durchzusetzen, mit aller Macht, mit all seiner Energie, mit all seinen Aggressionen. Ich bewundere das sehr, wie viel Wille und unbändige Wut in einem Kind stecken können.
Meistens sinkt das gefühlsstarke und weinende Kind dann in unsere schützenden Arme. Es sucht Halt und Geborgenheit: Der Moment an dem Nähe zu gelassen und bewusst eingefordert wird- entstanden durch die 29. Diskussion an diesem Tag. Denn anders als andere Kinder, empfinden manche Kinder mit einer ADHS Nähe als erdrückend. Der Reiz ist zu stark. Sie haben eine ausgesprochen gute, taktile Wahrnehmung: Berührungen sind intensiv und werden sogar als unangenehm empfunden.
Die Wutenergie jedoch, ermöglicht die Begegnung und die sonst unaushaltbare Nähe.
Vielleicht ist das unsere Art ,uns zu spüren und miteinander zu kommunizieren? Wir hören einander wieder zu und kommen in einen ganz anderen Austausch. Ein Austausch auf Augenhöhe, friedvoll und bedürfnisorientiert zwischen Kind und Elternteil.
Wut und Aggressionen sind also keineswegs negativ und schädlich und sollten anders als Hass eingeordnet und differenziert werden, denn wie schaffen wir es einen Marathon zu laufen oder eine herausfordernde Aufgabe zu meistern, wenn uns die Macht der Aggression nicht als Motor antreiben würde? An dieser Stelle ist noch wichtig zu erwähnen, das Wut und Aggressionen natürlich auch nach innen und außen gerichtet schlimme Folgen haben kann, auch sollen sie an dieser Stelle nicht bagatellisiert sein. Doch mit all den vielen Facetten des Bauchtiers umzugehen, lohnt sich vielleicht auch immer mal ein anderer Blick auf das sonst vermeintlich unüberwindbare und nicht veränderbare Erleben.
